Ist die Naherwartung ein Fehler Jesu?

Den Menschen, die an Jesus glauben, wird man Fehler zugestehen. Sie würden für „Spinner" gehalten, wenn sie ihre Fehler abstreiten, die doch jeder sieht. Grenzen sind jedem Menschen gegeben; sie waren auch während der irdischen Existenz ein Begleiter Jesu, wie es auf der Seite Grenzen dargestellt wurde. Wenn man es konsequent durchdenkt, bedeutet das „Mitauferstehen" in Epheser 2,6 doch die Teilhabe an der göttlichen Vollkommenheit. Der mit dem Geist Getaufte ist in Jesus, und Jesus ist in Gott. Aber diese Überlegungen dürfen an anderer Stelle erörtert werden, denn niemand wird ernsthaft fordern, dass lebende Menschen vollkommen sind.

Bei dem auferstandenen Jesus wird es schwieriger. Die Irrlehren der „Trinität" allein machen es unmöglich, an Jesus Fehler zu erkennen. Die Gleichsetzung der Personen wird von mir nicht vorgenommen. Es ist für jeden normal denkenden Menschen eine Selbstverständlichkeit, dass ein „Sohn" eine andere Person ist als sein „Vater". Die Schwierigkeiten sind ohne künstliche Zufügungen groß genug. Bei Jesus wirkt ein Fehler viel schwerer, weil damit das Selbstverständnis des Christentums und auch mein eigener Glaube angegriffen werden. Jesus ist eine Ausnahme, weil er an seinem Kreuz einen kurzen Moment völlig mit dem Vater verschmolzen ist, als er unsere Sünde und Krankheit getragen hat. Mit der Auferstehung hat er in der Vollmacht des Vaters sein Erbe angetreten und ist nun in seiner Fülle nicht mehr unterscheidbar von den Fähigkeiten des Vaters. Fehler bei dem irdischen Jesus bedeuten aber, dass auch seine Lehre nicht „vollkommen" ist. Die Bibel enthält dann nicht nur Fehler bei der Darstellung der Schreiber und erst recht bei der Überlieferung, wie auch ich sie zugestehe. Fehler wären auch bei dem irdischen Jesus - vor der Auferstehung - zu verzeichnen. Wenn auch für mich das „Wort Gottes" keinesfalls identisch ist mit der Bibel, würde eine gewisse Unverbindlichkeit bei Fehlern des irdischen Jesus entstehen, denn auch „gereinigt" wäre seine Lehre angreifbar. Somit aber ist sie ihrer Schärfe beraubt.

Das ganze Neue Testament ist von einer prickelnden Naherwartung durchzogen. Die Stellen in den Briefen bleiben unbeachtet, weil sie von fehlerhaften Menschen erstellt sind, nur Jesu Naherwartung wird erörtert. Noch gebe ich mich nicht kampflos mit der Antwort von Albert Schweitzer zufrieden, der nicht nur ein bekannter Arzt in Afrika war, sondern - vielen Personen unbekannt - auch Theologe! Er hat aus Matthäus 10,23 gefolgert, dass Jesus ein „Erscheinen des überirdischen Menschensohnes in Aussicht" stellte, „ohne daß die nachfolgenden Ereignisse ihm darin recht gaben" (Schweitzer, Aus meinem Leben und Denken, Bern 1931, 6). „Irrtum" und Wahrheit sind nur schwer miteinander zu verbinden. Die Spannung wird fast unerträglich groß, wenn der irdische Jesus eine falsche Prophetie gäbe. Das könnte man nur „Sünde" nennen; es wäre kaum noch durch menschliche Grenzen zu entschuldigen. Auf der Unterseite wird der Versuch unternommen, Jesu Naherwartung darzustellen. Seine Naherwartung ist auch der einzige Punkt, wo anstelle von Grenzen darüber nachgedacht werden kann, ob  ein Fehler Jesu vorliegt.